"Warum braucht Deutschland Mehrsprachigkeit?"
Auf dem Kongress wurde Bilanz des bundesweiten Projekts zum Thema Mehrsprachigkeit in den Migrantenfamilien gezogen. Es wurden Fragen der Entwicklung und Unterstützung dieses Phänomens besprochen. Dieses Thema ist in der deutschen Gesellschaft nicht zufällig. Deutschland ist heutzutage ein Teil des multikulturellen Europas, wo Mehrsprachigkeit einen großen Vorteil in der Ausbildung, im Beruf und für die Entwicklung interkultureller Beziehungen bedeutet. An dem Projekt nahmen gemeinnützige Organisationen aus 13 Städten teil. In allen Bundesländern wurde die Arbeit in 3 Richtungen aufgebaut: Ausbildung der sogenannten „Multiplikatoren“ (Vertreter der Vereine, die das Projekt vor Ort unterstützen und realisieren), Durchführung der Seminare für die Eltern – Migranten aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion, Kindergartenerzieher und Grundschullehrer, Vorbereitung der jährlichen Bundeskongresse, auf denen Vertreter der Politik, der Wissenschaft und der Vereine das Aktuellste auf diesem Gebiet präsentierten und über verschiedene Aspekte zu diesem Thema diskutierten.
Die Anerkennung der Mehrsprachigkeit als einer der Faktoren der harmonischen Entwicklung der Gesellschaft im 21. Jahrhundert fand ihre Bestätigung in den Vorträgen der Vertreter der kommunalen und regionalen Politik. Mit dem Grußwort trat Bürgermeister der Stadt Köln Andreas Wolter auf. Er betonte, dass das Vorhandensein verschiedener Kulturen und die Mehrsprachigkeit ein fester Bestandteil des heutigen Deutschlands sind. Was die Mehrsprachigkeit angeht, ist Köln die progressivste Stadt in Nordrhein-Westfalen. Über 20 Grundschulen arbeiten hier mehrsprachig. Über die Möglichkeiten derjenigen, die mehrere Sprachen beherrschen, bei der Berufswahl erzählten Torsten Klute, Staatssekretär für Integration im Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes NRW, Thomas Jainter, Bildungsreferenten des Landesintegrationsrates NRW.
Realität oder Tradition?
„So viele Sprachen du sprichst, so oft bist du Mensch“ besagt eine Volksweisheit, obwohl diese Worte sehr oft Lew Tolstoi, Maxim Gorki und Goethe zugeschrieben werden. Aber wer das auch gesagt hat, unbestritten bleibt die Tiefe der Bedeutung dieser Worte. Aber dennoch… die deutsche Gesellschaft nimmt die „ausländische“ Stimme unter den Migranten nicht so eindeutig wahr, besonders in der Öffentlichkeit, wenn man sich untereinander nicht auf Deutsch unterhält. Viele haben damit Erfahrung gemacht, wie Einheimische ihre Unzufriedenheit demonstrieren, wenn sie eine fremde Sprache hören. Besonders offensichtig ist das in kleineren Orten. In den Großstädten passiert das seltener, denn man hat sich hier an die kulturelle Vielfalt gewöhnt. Man kann die Deutschen auch verstehen, es ist ihr Land. Viele sind verärgert, dass sich Migranten keine Mühe geben, die deutsche Sprache zu lernen. Ist das aber richtig? Ist es wirklich so, dass Menschen, die untereinander eine andere Sprache sprechen, kein Deutsch können? Oder ist es einfach in diesem Moment bequemer so?
Die Zahl der Migranten wächst von Jahr zu Jahr! Mehrsprachigkeit ist Realität! Laut Statistik leben 1,6 Millionen Migranten heutzutage in Nordrhein-Westfalen, in dem bevölkerungsreichsten Bundesland. Das ist ein Viertel aller Migranten in Deutschland.
Viele Sprachen – viele Chancen
Aus diesem Grund wurden solche Themen wie Entwicklung der Mehrsprachigkeit und die gesellschaftliche Einstellung dazu aufgegriffen. Sprechen Sie bitte zu Hause mit Ihrem Kind Deutsch. Solche Ratschläge hören Eltern-Migranten sehr oft von Erzieherinnen und Lehrern. Heutzutage gehören solche Aussagen zum Teil des archaischen Bewusstseins. Niemand bestreitet die Wichtigkeit der deutschen Sprache. Aber das Leben zeigt, dass Kinder in der Schule und durch die Unterhaltung mit Freunden aus einheimischen Familien sehr schnell die deutsche Sprache lernen. Für die russische Sprache muss man kämpfen. Es ist gut, wenn Kinder oder Jugendliche ein bisschen Russisch verstehen. Die russische Schriftsprache geht ganz verloren und die kann dann nur von professionellen Lehrern im Rahmen des Nachhilfeunterrichts beigebracht werden. Deswegen behaupten die progressiven Pädagogen Deutschlands das Gegenteil: „Sprechen sie zu Hause mit dem Kind in Ihrer Muttersprache. Das ist so wichtig!“. Viele fragen „Wozu?“. Die Antwort ist sehr einfach: viele Forschungen zeigen, dass bilinguale Kinder, die ihre Muttersprache gut beherrschen, in der Schule besser sind. Die deutsche Sprache können sie dann auch schneller erlernen. Außerdem stellte es sich heraus, dass die erste Sprache das Fundament für andere Sprachen bildet. Das wirkt positiv auf die Psyche des Kindes, macht es sicherer und glücklicher, eröffnet neue Möglichkeiten für die Kommunikation und Erhaltung von Informationen. Ein großes Thema sind hier Zukunftsperspektiven für Jugendliche, ihre Möglichkeiten bei der Arbeitsvermittlung in der europäischen Gemeinschaft, die wirtschaftliche, politischen und kulturellen Kontakte mit Ländern aus aller Welt pflegt. Interessant ist auch das Phänomen der „sprachlichen Diskriminierung“, das auf dem Kongress angesprochen wurde. Wenn ein Kind aus einer englisch-deutschen Familie im Kindergarten etwas auf Englisch sagt, das auch keine offizielle Sprache dieses Landes ist, freuen sich alle und loben das Kind, stellen es als Vorbild hin. In dem Fall jedoch, wenn das Kind zum Beispiel auf Russisch, Arabisch oder Türkisch spricht, wird das als etwas Alarmierendes für die Sprachförderung wahrgenommen. Diese Tatsache ist schwer zu erklären. Man muss aber erwähnen, dass eine solche Einstellung gegenüber „nichtdeutschen Sprachen“ immer häufiger zur Vergangenheit gehört. Im Allgemeinen wird anerkannt, dass Mehrsprachigkeit mit ihren Vorteilen den Weg für eine harmonische Entwicklung der Persönlichkeit freimacht. Sprachliches Verhalten des Kindes hängt in vielen Fällen von den Eltern ab, die sich sehr oft schämen, in der Öffentlichkeit miteinander oder mit ihren Kindern in der Muttersprache zu sprechen. Und wie oft benutzen die Eltern unbewusst, wenn sie Russisch sprechen, deutsche Wörter, nicht selten auch in einer falschen grammatischen Form. Das Kind eignet sich das „falsche“ Deutsch an, das eher einem Wortsalat ähnelt, als einer Norm. Und das sich dann störend auf seine Fähigkeit auswirken, „richtiges“ Deutsch zu lernen. Im Idealfall kann ein Kind aus einer zweisprachigen Familie gleichzeitig zwei Sprachen zu erlernen. Unter Einhaltung bestimmter Regeln kann man diese Aufgabe leicht bewältigen.
Das haben Jugendliche mit dem Theaterprojekt „Experiment“ des Kulturzentrums „Phoenix“ sehr schön auf der Bühne gezeigt. Die Teilnehmer des Kongresses waren begeistert, als sie komplizierte Monologe aus den Werken von Klassikern der Weltliteratur wie Puschkin, Goethe und Schiller auf Russisch, Deutsch, Polnisch und Englisch hörten.
Der Kongress zum Projekt „Mehrsprachigkeit in Deutschland“ hat viele Fragen aufgeworfen, auf die sowohl professionelle Pädagogen, Linguisten und Politiker, als auch die Zeit selbst, die bekanntlich klare Verhältnisse schafft, Antworten geben müssen. Und es wird vielleicht möglich werden, dass der Gebrauch nicht nur der deutschen sondern auch anderer Sprachen in Zukunft im Alltagsleben zur Realität gehört, ohne Empörung oder Spott auszulösen.
Jana Franz
Die Teilnehmer des Projekts “ Mehrsprachigkeit als Brücke und Ressource zur Integration für Bildung und Beruf“ erzählen über das aktuelle Thema „Mehrsprachigkeit in Deutschland“
Viktor Ostrowski – Geschäftsführer des Kultur- und Integrationszentrums „Phoenix – Köln e.V.“, einer der Mitgründer des BVRE.
Wir – Vertreter der Initiativen der russischsprachigen Migranten- wissen, wozu unsere Kinder die russische Sprache benötigen. Wir möchten, dass der Kontakt in der Familie zwischen der jungen und der alten Generationen nicht abbricht. Das ist lebenswichtig. Wir als engagierte Eltern tun alles Mögliches, damit unsere Kinder Russisch nicht vergessen und genauso wie Deutsch, einwandfrei und ohne Akzent sprechen. Aber wünschen allein reicht nicht. Wir organisieren regelmäßig verschiedene Sprachkurse, Nachhilfeunterricht in verschiedenen Fächern auf Russisch, Theater und viele andere fördernde Maßnahmen. Wenn man sich genauer überlegt, was Mehrsprachigkeit bedeutet, wird offensichtlich, dass nicht nur Migranten sondern daran auch der deutsche Staat interessiert sein muss. Warum? Für Deutschland sind Beziehungen mit Ländern aus der ganzen Welt sehr wichtig. Deutschland kann von Bürgern (und die Migrantenkinder sind deutsche Bürger), die mit verschiedenen Kulturen vertraut sind, nur profitieren. Und wenn das für den Staat wichtig ist, wäre auch die Finanzierung dieser Arbeit im Rahmen von Staatseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten usw. zu erwarten. Heutzutage erkennen Politiker die Relevanz dieser Arbeit, dennoch passiert nicht viel. Mit dem Projekt „Mehrsprachigkeit“ möchten wir eine Initiative starten, die zukünftig zu einer besseren staatlichen Finanzierung führen wird, damit die Arbeit der Vereine auf ein professionelles Niveau gehoben werden kann. Ich betone, das ist ein politischer Moment. Anders gesagt, wir bitten nicht einfach um Geld. Das Ziel des Projekts „Mehrsprachigkeit“ ist es, die Notwendigkeit zu beweisen, mit Migranten in dieser Richtung zu arbeiten.
Olga Sperling – Vorstandsmitglied des BVRE , Koordinator des Bundesprojekts zum Thema „Mehrsprachigkeit“, Mitarbeiterin des gemeinnützigen Verein „Ausländerrat Dresden e.V.“.
Das Projekt hatte drei Zielgruppen - Multiplikatoren, Eltern und pädagogische Fachkräfte. Am kompliziertesten waren die pädagogischen Fachkräfte zu erreichen. Es war sehr schwer mit den Grundschullehrern eine gemeinsame Sprache zu finden. Es mag merkwürdig erscheinen, aber sie waren nicht offen für innovative Projekte. Die Grundschullehrer folgten selten unseren Einladungen, an Seminaren teilzunehmen. Ganz anders bei den Kindergärtnerinnen. Sie waren für die neuen Ansätze zur Didaktik der Mehrsprachigkeit sehr offen. In den Kindergärten hat man verstanden, dass man die zweite Sprache bei Kindern sowohl für die allgemeine Entwicklung als auch für das erfolgreiche Lernen der deutschen Sprache unterstützen muss. Übrigens haben wir in diesem Jahr den neuen Kindergarten „Globus“ für mehrsprachige Kinder in Dresden eröffnet. Inzwischen besuchen ihn 160 Kinder aus Familien verschiedener Communities. Die pädagogischen Fachkräfte verfügen über interkulturelle Kompetenz und finden für jede Kultur, für jede Sprache den Platz in ihren Herzen. Im Rahmen des Projekts wurden mehrere Maßnahmen für die Eltern durchgeführt, bei denen man ihnen erklärte, wie man eine Sprache lernt, warum es so wichtig ist, zuhause die Muttersprache zu sprechen. Das ist nicht nur eine Möglichkeit der Unterhaltung, sondern auch eine Brücke zur anderen Kultur. Wir beantworteten die Fragen zum deutschen Schulsystem, das sich vom russischen stark unterscheidet und für Migranten sehr oft unverständlich bleibt. Zum Beispiel: In Sachsen berichteten wir über die Besonderheiten des sächsischen Schulsystems. Wir besprachen auch das Thema des Sprachdefizites bei Kindern durch die Eltern. Eine typische Situation: im Kindergarten fängt die Mama automatisch an, Deutsch zu sprechen. Wozu? Auf diese Weise entgeht dem Kleinen die Möglichkeit lexikalische Einheiten zu dieser bestimmten Situation auf Russisch zu lernen. Man kann viele solche Beispiele anführen - Busfahrten, Einkaufen, Arztbesuche. Eine bekannte tschechische Schriftstellerin sagte einmal, die Sprache sei das schönste Geschenk, das die Eltern ihrem Kind machen können. Warum soll man sein Kind dieses Geschenks berauben? Es ist doch so einfach, mit seinem Kind in der Muttersprache zu sprechen. Ich wünsche allen Eltern – allen Migranten in Deutschland – den Mut, in jeder Situation im Rahmen ihrer Muttersprache zu bleiben. Die deutsche Sprache bleibt immer mit uns!
Sergej Aruin – Vorstandsmitglied des BVRE, Geschäftsführer des Vereins AVP (Akzeptanz Vertrauen Perspektive e.V.) in Düsseldorf.
Seit 2008 arbeiten wir an dem Projekt des zweisprachigen Kindergartens in Düsseldorf. Anfang März 2015 haben wir mit den Bauarbeiten angefangen. Ende des Jahres wird alles fertig sein, damit die Kinder im Februar 2016 in den neuen Kindergarten gehen können. Hier planen wir, nach dem System von Lew Wygotski zu arbeiten. Und natürlich werden die Erfahrungen des zweitsprachigen Bildungssystems, über das auf dem Kongress gesprochen wurde, berücksichtigt. Ehrlich gesagt, interessierte die Stadt Düsseldorf sich nicht besonders dafür, welchen Schwerpunkt der Kindergarten hat. Für die Stadtverwaltung ist es nur von der Bedeutung, dass neue Kindergartenplätze geschaffen werden. Das ist die Realität. Leider zeigt die Stadtverwaltung eher Gleichgültigkeit gegenüber zweisprachigen Vorschuleinrichtungen. Andererseits leistet auch niemand Widerstand gegen unsere Ideen. Und das bedeutet schon etwas…
Prof.Dr.phil. Nataliya Soultanian, Studiendekanin Bildung und Erziehung in der Kindheit an der Hochschule Heidelberg, Autor wissenschaftlicher Arbeit zum Thema der Mehrsprachichkeit bei den Kindern.
Als jemand, der sich mit den Besonderheiten bilingualer Kinder beschäftigt, kann ich sagen, dass sie mehr sprachliche Ressourcen haben. Und das bedeutet, mit Unterstützung von Seiten der Familie und der Schule, auch mehr Möglichkeiten. Erstens zeigen diese Kinder große Erfolge beim Erlernen weiterer Fremdsprachen, zweitens, wie Soziologen und Psychologen behaupten, passen sie sich an neue Bedingungen in der Gesellschaft schneller an, wenn andere kommunikative Situationen entstehen. Drittens beweisen viele Forschungen, dass diese Kinder sehr kreativ sind. Meiner Meinung nach muss die deutsche Gesellschaft einsehen, dass die Unterstützung von Mehrsprachigkeit für sie von größtem Interesse ist, denn in Zukunft können zweisprachige und mehrsprachige Bürger viel Nutzen für die Entwicklung Europas bringen. Sie haben zum Beispiel viel bessere Jobaussichten. Aber dafür wird die Hilfe des Staates benötigt: besondere finanzielle Programme, effiziente Arbeitsbedingungen, Fachkräfte auf dem Gebiet der bilingualer Pädagogik. Die zweisprachige Erziehung muss bereits in der Frühkindheit, im Kindergarten beginnen und in der Schule fortgesetzt werden. Die Einstellung der deutschen Gesellschaft gegenüber Mehrsprachigkeit ändert sich allmählich. Kein Lehrer wird heutzutage mehr empfehlen, die Muttersprache absichtlich zu vernachlässigen. Unser Institut hat beobachtet, dass wenn ein Kind die erste Sprache schlecht beherrscht, es auch ungenügende Kenntnisse der deutschen Sprache zeigt. Meine Empfehlung als Professor an alle Eltern-Migranten und Vertreter von gemischten Ehen ist, in der Muttersprache mit dem Kind zu sprechen. Lassen sie Ihr Kind sich mit dieser Sprache vertraut fühlen, und die deutsche Schule macht ihre Arbeit von alleine!
Jana Franz.