Persönliches Gedächtnis und Dekolonialität. Der BVRE unterstützt die Initiative

Yevdokiya Sorokina · 

In Frankfurt setzt sich die Post-Ost-Community mit Themen der Dekolonialität und Erinnerungskultur auseinander. Eine der Veranstaltungen im Rahmen des umfangreichen Projekts – Personal Memory and OtherArchives („Persönliche Erinnerung und andere Archive“) – wurde mit Unterstützung von BVRE organisiert.

Im Frankfurter Ausstellungsraum basis projektRaum präsentiert das Kollektiv de_colonialanguage die Ausstellung „TAKE a SEAT“ – nicht nur ein künstlerisches Projekt, sondern eine vielschichtige Untersuchung darüber, wie Kolonialität unseren Alltag durchdringt.

In Berlin gibt es eine lebendige Szene, in der wichtige Konsolidierungsprozesse stattfinden“, erklärt Kuratorin Irina Denkmann.Doch innerhalb der Gruppen aus dem postsowjetischen Raum fehlt diese Dynamik. Genau deshalb wollten wir unsere dekolonialen Praktiken auch nach Frankfurt bringen.“

Bekannt durch ihre Interventionen in Berlin, Hamburg und Bremen, laden Olesya Gonserovskaya, Marina Solntseva, Denis Esakov und Maja Esakova das Publikum ein, die Rolle der passiven Beobachter*innen zu verlassen und aktiv über Macht, Sprache und kollektives Gedächtnis zu reflektieren.

Kolonialität wirkt im Verborgenen – in scheinbar neutralen Alltagsgegenständen, Raumordnungen und Verwaltungsstrukturen. Die Ausstellung TAKE a SEAT demaskiert diese unsichtbaren Machtmechanismen und übersetzt sie in künstlerische Objekte, die nicht nur betrachtet, sondern auch körperlich erfahren werden können.

In der Ausstellung werden alltägliche Objekte und Räume zu Spiegeln struktureller Gewalt. Ein Stuhl, der soziale Hierarchien verkörpert, oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als realitätsfernes Symbol – diese Elemente fordern dazu auf, vertraute Bedeutungen zu hinterfragen. Welche Strukturen nehmen wir als gegeben hin? Und wie prägen scheinbar neutrale Details unser Verständnis von Gerechtigkeit?

Dekoloniale Kritik wird hier greifbar: Installationen, Performances und Textinterventionen ermöglichen neue Perspektiven auf die Realität und öffnen Räume für alternative Formen von Wissen und Repräsentation.

Eine Installation aus weißen Stühlen, arrangiert wie architektonische Ruinen oder eine Fantasiereatur, verwandelt ein vertrautes Objekt in ein Symbol anonymer Systeme. Unter der scheinbar neutralen Schicht aus Kalkfarbe verschwinden Spuren persönlicher Geschichten. Der weiße Anstrich ist dabei kein Zufall: Die kalkige Oberfläche macht die Stühle unbenutzbar, stößt ab und hinterlässt Spuren – ein physischer Abdruck symbolischer Gewalt. So wird der alltägliche Stuhl zum Träger unsichtbarer Machtverhältnisse. Er verliert seine Funktion und konfrontiert die Besucher*innen mit einer Form subtiler, aber spürbarer Ausgrenzung.

Daneben: eine fragile, rissige Silhouette an der Wand – als würde Identität selbst unter dem Druck normativer Strukturen zerbrechen. Diese Arbeiten treten in einen kritischen Dialog mit dem Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der ebenfalls im Ausstellungsraum präsent ist. Wie Kuratorin Irina Denkmann betont: „Besonders faszinierend finde ich die Unsichtbarkeit von Stühlen im Alltag. Sie sind so selbstverständlich geworden, dass wir sie kaum noch wahrnehmen – und doch tragen sie unzählige soziale und kulturelle Geschichten in sich. Sie sind Archive.“

Im Rahmen des Programms fand auch die performative Lesung “Den Wind mit hartem Akzent übersetzen” statt, die die Auseinandersetzung mit Fragen von Identität und epistemischer Gewalt vertiefte. Unerwartete Objekte und körperliche Gesten verstärkten das Gefühl eines Bruchs zwischen Form und Inhalt und unterstrichen die Vielschichtigkeit des künstlerischen Ausdrucks. Die Lesung wurde – wie auch die gesamte Ausstellung – zu einem rituellen Akt des Widerstands, der die Logik des „Offiziellen“ durchbricht und Raum für alternative Formen von Wissen und Repräsentation eröffnet.

Eine Fortsetzung dieses kritischen Reflektierens bildete der Workshop Personal Memory and OtherArchives . Er brachte Künstler*innen, Forscher*innen und Aktivist*innen zu einem interdisziplinären Dialog zusammen. Im Zentrum standen Praktiken kollektiven Erinnerns: Persönliche und familiäre Geschichten wurden zu einem alternativen Archiv migrantischer Erfahrungen.

Anastasia Sudzilovskaya, stellvertretende Leiterin des Verbands russischsprachiger Eltern, der die Organisation des Workshops unterstützte, betont:

“Hier wurden persönliche Erzählungen zum Ausgangspunkt für kollektive Zukunftsentwürfe. Ein Archiv – das sind nicht nur Dokumente, sondern auch unsere Erinnerungen, Emotionen und Erlebnisse. Der Workshop gab persönlichen Geschichten Raum und Stimme“

Die Teilnehmer*innen diskutierten, wie sich das Selbstverständnis im Kontext von Migration formt und welche Narrative häufig – bewusst oder unbewusst – unsichtbar bleiben. Ein zentrales Element des Treffens war das gemeinsame Entwerfen von Zukunft: Durch intensiven Ideenaustausch wurden etablierte historische Narrative dekonstruiert und neue Formen kollektiven Gedächtnisses ausgelotet.

Diese Erfahrung ging über den einzelnen Tag hinaus. Die im Workshop angestoßenen Gespräche und Impulse finden ihre Fortsetzung in kommenden Projekten von de_colonialanguage. Der Workshop ist ein Teil einer langfristigen Auseinandersetzung mit Kolonialität im Alltag, bei der Kunst als Werkzeug sozialer Diagnose dient.

Bilder: Victoria Svyatnenko, Evgeniya Kurtina, Denis Esakov