Post-Ost-Community in Deutschland und Chancengerechtigkeit
In Deutschland leben etwa 5 Millionen Menschen, die aus den postsowjetischen Ländern stammen. Die Sowjetunion existiert seit über 30 Jahren nicht mehr und eine ganze Generation ist herangewachsen, die sich nicht mehr damit identifiziert. Braucht diese Gruppe eine eigene Bezeichnung – und wenn ja, welche? Welche Stereotypen gibt es über sie und wie kann die Zivilgesellschaft zur Chancengleichheit beitragen? Diese Themen wurden bei einem Treffen von den BVRE-Mitgliedsorganisationen und Partner*innen in Berlin diskutiert.
Der große Raum des Berliner Clubs Aviator reichte kaum aus, um alle Teilnehmer*innen der Veranstaltung „Chancengleichheit in der Post-Ost-Community“ zu fassen. Über 40 Menschen aus verschiedenen Bundesländern- darunter Leiter*innen und Aktivist*innen von zivilgesellschaftlichen Organisationen- tauschten sich zwei Tage lang mit Expert*innen und miteinander aus, um ein Thema zu vertiefen, das die Integrationsprozesse von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland maßgeblich prägt.
Zu Beginn stand die Klärung des zentralen Begriffes. Die Forscherin Anastasia Marschewa regte das Publikum dazu an, den Begriff Post-Ost zu hinterfragen und gemeinsam zu reflektieren, welche individuellen Bedeutungen er für jede*n Einzelne*n hat. Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen fassen unter diesem Begriff Menschen mit osteuropäischen Wurzeln zusammen. Obwohl diese Gruppe heterogen ist, werden ihre Mitglieder oft als eine Einheit betrachtet und sehen sich mit denselben Formen der Diskriminierung konfrontiert.
Das Thema stieß auf großes Interesse. Eine Herausforderung für die Stärkung einer Bewegung gegen osteuropäischen Rassismus liegt im Fehlen eines gemeinsamen historischen Traumas – eines verbindenden Erlebnisses, das als Fundament für eine kollektive Identität und Solidarität dienen könnte. Während der Diskussion kamen die Teilnehmer*innen zu dem Schluss, dass es dennoch möglich sei, eine Gemeinschaft zu schaffen, in der Vielfalt erhalten bleibt und ein vielschichtiges "Patchwork" entstehen kann.
Die staatlich geprägte migrantische Identität kann sowohl Herausforderungen als auch Vorteile mit sich bringen – etwa vereinfachte behördliche Prozesse oder einen besonderen Status. Ein weiteres zentrales Diskussionsthema war die Frage, wie negative Narrative über die Post-Ost-Community verändert werden können. Bereits das Präfix „Post-“ signalisiert eine neue Entwicklungsphase und fordert zur Reflexion sowie zu gesellschaftlichem Wandel auf. Das Selbstbild wird maßgeblich durch die Fremdwahrnehmung beeinflusst. Daher hoben die Teilnehmer*innen hervor, dass sie zwar bestehende Stigmatisierungen ablegen wollen, zugleich aber anerkennen, dass bestimmte Zuschreibungen nicht nur negativ, sondern mitunter auch vorteilhaft oder nützlich sein können.
Die Diskussion schloss mit der Erkenntnis, dass unabhängig davon, ob eine vollständige Assimilation erfolgt oder die Community als integraler Bestandteil der nationalen Identität anerkannt wird, der Staat die Gleichberechtigung aller Bürger*innen fördern und die Zivilgesellschaft ihr Engagement aktiv fortsetzen sollte. Die Zugehörigkeit zur Post-Ost-Community kann sich manchmal wie ein emotionales Ghetto anfühlen, kann aber gleichzeitig auch eine Form des Widerstands gegen Diskriminierung sein – ein kollektiver Kampf für gleiche Rechte und Anerkennung.
Der zweite Tag des Treffens widmete sich der Frage, was Chancengerechtigkeit bedeutet und wie Migrant*innenorganisationen zu deren Umsetzung beitragen können. Chancengerechtigkeit bedeutet, dass jede*r, unabhängig von den Ausgangsbedingungen, die gleichen Möglichkeiten auf Zugang zu Ressourcen, Bildung und sozialer Integration haben sollte. In Deutschland ist dies ein staatliches Prinzip, doch in der Praxis stehen Menschen mit Migrationshintergrund oft vor Hürden: Bürokratie, Informationsmangel, erschwerter Zugang zur Hochschulbildung oder zum Arbeitsmarkt. Die Teilnehmer*innen tauschten Erfahrungen darüber aus, welche Maßnahmen ihre Organisationen zur Beseitigung dieser Barrieren ergreifen. Die Ansätze sind vielfältig: Sprachkurse, Beratungen, Treffen mit Politiker*innen, Unterstützung bei der Kommunikation mit staatlichen Institutionen und vieles mehr. Der Austausch war bereichernd und viele Teilnehmer*innen planen, die gewonnenen Ideen mit ihren Kolleg*innen weiter zu vertiefen und in ihren Regionen in die Praxis umzusetzen. Die Veranstaltung „Chancengleichheit in der Post-Ost-Community“ wurde vom BVRE e.V. im Rahmen des Projekts „Kompetenzverbund für Vielfalt und Zusammenhalt: Chancengerechtigkeit in der pluralen Gesellschaft“ organisiert. Die Projektleiterin Anastasia Sudzilovskaya betont:
"Bei unserem Treffen haben wir Raum für neue Perspektiven und unerwartete Dialoge über das komplexe Erbe, Stereotype und Zukunftsperspektiven der Post-Ost-Identität geschaffen. Durch die Moderation konnten wir die Vielschichtigkeit unserer Organisationen erkennen und wertvolle Ressourcen sichtbar machen."
Alle Materialien zur Veranstaltung werden zusammengefasst und für die weitere Arbeit am Projekt "Kompetenzverbund für Vielfalt und Zusammenhalt: Chancengerechtigkeit in der pluralen Gesellschaft" genutzt.