Rassismus spricht Russisch, oder bin ich taub?
Was, wirklich? Das kann doch nicht wahr sein, denn wir, Russischsprachige, sind von Kindheit an Internationalisten, Freunde von allen unterdrückten Nationen dieser Welt, insbesondere der afrikanischen Staaten. Und trotzdem RassistInnen unter uns? Ich werde verrückt!!!
Wer ist hier Rassist und wer ist hier Rassistin? Ein Schritt nach vorne und alles schnell erklären, sofort rassistische Ansichten aufgeben und zurücktreten, in die Reihen von colour blind und politisch korrekten Demokraten und Demokratinnen. Sonst wird man noch von außen über uns sagen: Wir, Russischsprachige, könnten RassistInnen sein. Was wird man von uns nun ja denken…
Und jetzt mal die Ironie zur Seite. Die internationalen Wochen gegen Rassismus ist eine Mahnung an uns alle, ja, ja, auch an Sie und an Sie, und sogar an Sie. Nicht böse hingucken - auch wir sind potentiell von rassistischen Stereotypen gefangen gehalten. Im Alltag, im Beruf oder im Bereich der Dienstleistungen agieren viele von uns rassistisch, ohne es überhaupt zu merken. Einen unsichtbaren Rassismus gibt es neben direkten rassistischen Angriffen aufgrund einer alten, kolonial bedingten Vorstellung von einer Welt, die in Rassen aufgeteilt wäre. Diese Überreste des europäischen Kolonialismus aus dem 19. Jahrhundert beruhen auf pseudo-wissenschaftlichen Konzepten von Hierarchien unter Rassen. So war es damals einfacher, die gewaltige Ausbeutung von nicht europäischen Völkern und Kulturen in den eigenen Augen zu legitimieren und mit Gewalt den imperialen Wahnsinn zu unterstützen.
Und was hat die Geschichte des Rassismus mit uns, den Russischsprachigen, zu tun? Sowjetzeit hatte als ideologische Fassade internationale Freundschaft aller Völker gebastelt, um eigene Macht in dem Kalten Krieg außerhalb der UdSSR, in Afrika und Lateinamerika zu stärken. Als Tarnung nutzte man dieselbe Idee einer aufklärerischen Aufgabe, nur waren diesmal Aufklärer Kommunisten, blieben aber hierarchisch und rassistisch geprägt. Wer hat in der sowjetischen Schule in der Pause nicht eine rassistische Anekdote gehört, erzählt oder mitgelacht? TV-Shows, Filme und Zeichentrickfilme sind dabei unsichtbare Flüsterer - man darf doch ein paar Scherze erzählen, oder?
Ich habe meine eigene Erzählung eines rassistischen Umfelds. Bin kein Skinhead, kein Radikaler, doch ich schäme mich immer noch, nicht genug, nicht laut genug gegen Rassismus damals agiert zu haben.
Das war ein Spaziergang vor einem Jahr zusammen mit einem guten Freund, der Schwarz ist und seit Jahrzehnten in Deutschland, also auch unter Russischsprachigen, lebt. Er hat zwei Kinder, ist Lehrer und Schauspieler, doch Skinheads wollen seinen Lebenslauf ignorieren. Seit 2000 ist er EU-Bürger und erlebt täglich Ausgrenzung und oft auch physische Gewalt. Auch seitens von Russischsprachigen. Wir standen vor dem Aufzug, der endlich kam und voll von Menschen war, die nach der Arbeit ihr Büro verlassen wollten. Alle hatten es eilig. Die Türen gingen auf. Eine Dame in dem Aufzug hat uns beide gesehen. Ich, als weißer Mann, war für sie in Ordnung, doch George, Amerikaner und Schwarzer - was für eine unglückliche Kombination, würde ein echter Rassist und eine echte Rassistin denken, war eine Überraschung, eine unangenehme. Die Dame murmelte etwas auf Russisch, etwas wie “der noch hier, der Ne**r” und stieg aus - egal, es kommt ein anderer Aufzug, wo es keinen Schwarzen geben wird, egal, dass er ein guter Lehrer ist. Der Aufzug mit der Dame wird nun nur nach unten fahren, in den dunklen Bereich der Ängste, der unaufgeklärten Ängste einer Russin oder eines Russen, der bestimmt sich selbst als fortschrittlich einschätzt, doch nicht schweigen kann, wenn ein schwarzer Lehrer auftaucht und das schöne Selbstportrait stört. Was, ich RassistIn? Doch nicht weil ich keine Schwarzen mag, sollen sie dort bleiben wo sie hingehören. Es ist einfach ja so eine Meinung, ein spontanes Gefühl, ich kann nichts dafür…ich bin doch anständig. Wir stiegen in den Aufzug, ich schäme mich bislang, die Frau nicht angesprochen zu haben, immerhin ist Russisch, unsere gemeinsame Muttersprache, die Sprache des Rassismus geworden, in dem Aufzug nach unten…
Für so einen Aufzug muss es roten Knopf geben, wo man den Weg nach unten, in mehr Gewalt, mehr Ängste stoppt. Rassismus geht über das Verbale hinweg und kann auch leise, sogar stumm bleiben, doch er wird weiter bestehen. Flüstern, verächtlich lächeln, im Alltag kaum bemerkbar rassistischen Scherzen zustimmen und dann im Büro Menschen unterschiedlich behandeln, weniger Lohn zahlen, oder die Wohnung nicht zu vermieten, das ist doch kein Rassismus, oder? Und dann kommt der Aufzug und so eine Überraschung…
Rassismus spricht mehrere Sprachen, er lebt von unseren Vorurteilen, die wir auch aus der sowjetischen Vergangenheit geerbt haben. Wir tragen den Rassismus in uns und vergessen oft, dass colour blind, also Hautfarbe zu ignorieren, ein anderes, schärferes Sehvermögen zu haben bedeutet. Menschen sind und bleiben bunt, doch Farbe der Haut als Grund für Ausgrenzung gehört der Dunkelheit des Geistes, der gewaltigen Geschichte der Sklaverei und Kolonialismus. Und wir, als Verband, sind colour blind, das ist unsere Wahl und unser Zustand. Farbenblind sind wir, doch wir sehen, dass jeder Mensch eine einzigartige Farbe hat, die, die aus uns eine Palette macht. Plural sind wir in unserem Projekt und wollen gegen Rassismus mit Dialog, Aufklärung und kritischen Debatten wirken. Dafür machen wir den ersten, aber allerwichtigsten Schritt-wir akzeptieren, dass Rassismus in Deutschland auch Russisch spricht und giftige Worte in gewaltsame Taten umwandeln kann. Das ist der Beginn eines langen Weges zur Bekämpfung rassistischer Narrative unter Russischsprachigen.